Content und Distribution
Die Literatur und die elektronische Herausforderung
Bericht der Arbeitsgruppe 1
Rapporteur:
Giuseppe Vitiello
Europarat, Straßburg
Im Jahre 1992 führte die Europäische Kommission
eine Studie durch, um einen Rahmen für die Intervention der Europäischen
Kommission zu schaffen und langfristige Perspektiven für die europäischen
Verleger im Bereich des elektronischen Publizierens zu ermitteln. Die
Studie machte kein Geheimnis aus ihren Ambitionen: Bis zum Jahre 2000,
so hieß es, werden alle Bereiche des Verlagswesens vom Publizieren
in den Neuen Medien betroffen sein. Der potentielle Anteil des elektronischen
Publizierens im Buchsektor wurde auf eine Größenordnung von
8-18 Prozent geschätzt. Auf den Sektor STM (Scientific, Technical
and Medical) fiele mit 20-30 Prozent der Löwenanteil des gesamten
Verlagsgeschäftes. Juristische Literatur und Kinderliteratur seien
ebenso betroffen, ihr Anteil wurde auf 15-25 Prozent, der Marktanteil
von Bildungsliteratur auf 10-20 Prozent geschätzt.1
Ende 1997 hat eine weitere Studie der Europäischen
Kommission diese Zahlen auf weniger optimistische (aber realistischere)
Ziele revidiert. Der Marktanteil des elektronischen Publizierens im Jahre
2000 wurde auf 5 % (statt 8-10 %) des gesamten Verlagsmarktes für
den Buchbereich reduziert, STM-Publikationen würden 15 % erzielen
(statt 20-30 %), die Bildungsliteratur erreichte nur den niedrigsten Wert
(10 %) der früheren Annahme (10-20 %).2
Selbst wenn sich das Entwicklungstempo des elektronischen
Verlagwesens verlangsamt, haben die Informations- und Kommunikationstechnologien
(ICT) die Veränderung der sozialen Kommunikation, der kulturellen
Entwicklung und von Buchfachverbänden auf schwindelerregende Weise
vorangetrieben, eine Entwicklung, von der auch die Aktienbörsen nicht
ausgenommen waren. Kürzlich gab es große Aufregung aufgrund
der neuesten Nachrichten über die Entstehung des sogenannten Konvergenzphänomens,
das sich in den vielen Fusionen und Allianzen zeige, die die bestehenden
Informations- und Kommunikationsindustrien grundsätzlich veränderten
und einen hohen Prozentsatz des Gesamtwertes der weltweiten Unternehmenszusammenschlüsse
und -übernahmen ausmachten. Horizontale und vertikale Allianzen zwischen
den Giganten der jeweiligen Sektoren (wie etwa zwischen Bertelsmann und
America Online oder Times Warner und Netscape) dominierten die Schlagzeilen
der Zeitungen und das Fernsehen. In den USA haben die Unternehmenszusammenschlüsse
und -übernahmen in der ersten Hälfte des Jahres 1998 eine Größenordnung
von 8,55 Milliarden Dollar angenommen. Auch horizontale Fusionen stehen
auf der Tagesordnung der Verlagsindustrie und geben Anlaß zur Sorge
über mögliche monopolistische Tendenzen. Die große Neuigkeit
der Frankfurter Buchmesse 1997 war die voraussichtliche Fusion zwischen
Reed-Elsevier und Wolters Kluwer, die durch Einwände der Europäischen
Kommission doch noch verhindert wurde. Im Jahr 1998 übernahm die
Bertelsmann-Gruppe jedoch den Springer Verlag, einen der wichtigsten wissenschaftlichen
Verlage. In den USA und in Frankreich kontrollieren 20 bzw. 26 Verlagshäuser
90 Prozent bzw. 75 Prozent des Marktes. In Frankreich sind 50 Prozent
des Verlagsmarktes in den Händen von Hachette und Havas, den beiden
großen Akteuren des französischen Buchhandels.
Obwohl die Trends sich noch nicht klar abzeichnen, leistete
die Arbeitsgruppe der Linzer Konferenz über "Literatur und elektronische
Herausforderung" wertvolle analytische und definitorische Beiträge.
Anwesend waren die wichtigsten Vertreter der Buchbranche (vom Autor bis
zum Buchhändler), Fachleute mit spannenden Erfahrungen im Bereich
des elektronischen Publizierens, bedeutende Persönlichkeiten aus
Berufsverbänden, Politiker, kurz, die Protagonisten der Buchszene
und des elektronischen Publizierens. Sie waren sich darüber einig,
daß die Auswirkungen des elektronischen Publizierens auf den Buchhandel
gravierend, aber nicht vernichtend sein werden. Das elektronische Publizieren
wird vielmehr paradoxerweise dem konventionellen Verlegertum neuen Aufschwung
bringen, weil es eine preiswert vernetzte Umgebung schafft, in der "content"/Inhalte
schneller und besser in Papierform hergestellt werden können. Die
Einführung von Informations- und Kommunikationstechnologien im Verlagswesen
ist daher eher evolutionärer als revolutionärer Natur. Was sich
verändert, sind die Funktionen und die entsprechenden Positionen
der Akteure im Bereich des Buches: Ein ganzes Geflecht an Traditionen,
Beziehungen und Regulierungen befindet sich gerade in radikaler Veränderung.
Die Rapporteure der Konferenz wären gerne Pierre Ménard, die
von Borges erfundene Figur, dessen größtes Talent es war, einen
zuvor geschriebenen Text Wort für Wort, Zeile für Zeile zu wiederholen.
Die folgende Zusammenfassung wird die Fülle an Diskussionsbeiträgen
und das Interesse, das diese Diskussionen begleitete, sicherlich nicht
in allem wiedergeben können. Sie wird jedoch, wie ich hoffe, einen
allgemeinen Rahmen für weitere Reflexionen über die Entwicklungsmöglichkeiten
von Literatur im elektronischen Kontext und ein größeres Verständnis
für elektronisches Publizieren als kulturelle Kompetenz herstellen
können.
[nach oben]
Elektronisches Publizieren: Kreation und Produktion
Die erste Debatte handelte von sogenannten "Erfolgsgeschichten"
im Bereich des elektronischen Publizierens, d.h. wie Verleger und Autoren
die Informations- und Kommunikationstechnologien für die Produktion
und Distribution von literarischen Inhalten in kreativer und visionärer
Weise nutzen.
Die erste "Erfolgsgeschichte" betraf Stroemfeld,
ein Verlagshaus, das sich auf philologische Editionen alter wie auch moderner
Texte spezialisierte. Zur Visitenkarte des Verlagshauses zählen die
Werkausgaben (auf CD-ROM) von Friedrich Hölderlin, Heinrich von Kleist
und Franz Kafka. Interessant sind dabei vor allem zwei Aspekte. Einerseits
die Verwendung von Informations- und Kommunikationstechnologien zu philologischen
Zwecken. Der "computerunterstütze Philologe" arbeitet mit
Scanner und insbesondere mit Techniken des Schwarz-Weiß-Kontrastes,
um Manuskripte zu dechiffrieren und Kalligramme zu lesen. Die Techniken
ermöglichen auch, daß die Manuskripte Seite für Seite
wie elektronische Palimpseste, die mit Hilfe der Technik so oft wie nötig
gereinigt und wiederhergestellt werden, verglichen werden. Textvarianten
wurden zu Forschungszwecken auf Vergleichstafeln gescannt und reproduziert.
Diese Techniken werden die Anhänger von Meyer-Lübke und Grimm
begeistern.
Zudem entsteht eine neue Rhetorik, in der der Leser
im Zentrum elektronischer Transaktionen steht, mit Text-Providern interaktiv
kommuniziert und mit Textinterpretationen experimentiert. Die Leser haben
die Möglichkeit, das Original mit späteren Ausgaben und weiterführender
Sekundärliteratur zu verknüpfen. Darüber hinaus bedeutet
es eine Kostenersparnis, wenn Scan-Techniken statt der konventionellen,
kostspieligen Mikrofilm-Technik eingesetzt werden.
Die zweite Erfolgsgeschichte ereignete sich im Jahr
1996 in Schweden, als drei prominente schwedische Schriftsteller - Forsell,
Myrdal und Curman - ankündigten, daß sie mit "Print-on-demand"
die konventionelle Verlagsform hinter sich lassen. Ein neues Verlagshaus
war geboren: PODIUM.
[nach oben]
Was ist "print-on-demand"?
"Print-on-Demand" ist ein innovatives neues
Druckverfahren, das auf digitaler Technologie basiert und den Druck limitierter
Auflagen zu erschwinglichen Preisen ermöglicht. In der traditionellen
Offset-Technologie kann der Druck von 100 Exemplaren fast so teuer kommen
wie der von 1.000 Exemplaren. Verleger müssen daher oft eine viel
höhere Auflage in Auftrag geben als es der Markt verlangen würde,
damit eine Edition rentabel wird. Durch Print-on-demand kann man sich
von diesem Prinzip verabschieden. Denn abgesehen von den feststehenden
Kosten für die Originalvorlage kostet jedes Exemplar des Buches gleich
viel. Print-on-demand ist daher - je nach den auf nationalen Märkten
verfügbaren Druckeinrichtungen - bis zu etwa 500 Exemplaren die günstigere
Variante. Für höhere Auflagen ist der traditionelle Offsetdruck
wirtschaftlicher. Print-on-demand ist daher eine Lösung, ein Angebot
für kleine Auflagen, die man bislang aufgrund der hohen Kosten des
Offsetdrucks eher vermied und ist geradezu ideal für kulturelle,
nicht-kommerzielle Publikationen.3
Die erste Print-on-Demand-Technologie, die implementiert
wurde, war das von Xerox Anfang der 90er Jahre entwickelte Docutech-System.
In den letzten Jahren wurde diese Technologie kontinuierlich weiterentwickelt.
Die Maschinen wurden aktualisiert, ihre Leistung erhöht, auch neue
Herstellerfirmen kamen auf den Markt. Alle Maschinen sind nunmehr in der
Lage, perfekte Bücher in erstaunlicher Geschwindigkeit und mit minimalem
Aufwand zu produzieren. Beim Binden - lange Zeit eine Schwachstelle -
wurden akzeptable Standards entwickelt, heute kann man sowohl Hardcovereinbände
als auch Paperbacks herstellen. Ein Buch mit 600 Seiten kann beispielsweise
in etwa fünf Minuten gedruckt werden.
Das Print-on-Demand-System revolutioniert die Verlagswelt
aus mehreren Gründen:
- Kleine Auflagen, angefangen von einem Exemplar,
werden aufgrund niedrigerer Produktionskosten möglich.
- Die Kosten für Originalvorlagen werden im Vergleich zu den Vordruckkosten
im traditionellen Offsetdruck niedriger.
- Es eröffnet neue Möglichkeiten für Projekte mit limitierten
Auflagen, beschränkten Märkten oder beschränkten Distributionsmöglichkeiten.
- Vordruckauflagen sind möglich, die noch korrigiert oder aktualisiert
werden können, bevor eine größere Auflage publiziert
wird.
- Der spätere Nachdruck vergriffener digitalisierter Werke ist
zu vernünftigen Kosten möglich.
- Ein Qualitätsunterschied zwischen digitalisiertem und traditionellem
Offsetdruck wird vom Leser nicht wahrgenommen.
- Dank der On-Demand-Produktion sind erstaunlich kurze Lieferzeiten
- innerhalb weniger Stunden nach Auftragserteilung - möglich.
Eine Veränderung der Subventionspolitik ist vor
allem in Ländern mit weniger verbreiteten Sprachen, eigentlich für
die meisten mittel- und osteuropäischen Länder, von grundlegender
Bedeutung. Die Gremien für Buch- und Lesekultur und vor allem die
Forschungsministerien bzw. Forschungsbeiräte, die gewöhnlich
die Publikation von wissenschaftlichen Studien finanzieren, wären
klug beraten, wenn sie ihre Subventionspolitik revidierten und Print-on-Demand-Titel
finanzierten. Seit dem Jahr 1997 publizierte PODIUM an die 5.000 Bücher
und konnte durch gute Beziehungen zu türkischen Autoren türkische
Werke für die schwedische türkische Gemeinschaft produzieren.
[nach oben]
Copyright
Es ist von Vorteil, wenn man sich die Geschichte des
Urheberrechts in Erinnerung ruft, weil die gegenwärtigen europäischen
Entwicklungen die Struktur des traditionellen Copyright-Systems radikal
verändern. Das Copyright wurde zu Beginn des 18. Jahrhunderts mit
dem ausdrücklichen Ziel, Kreativität im Interesse der Gesellschaft
zu schützen, geschaffen. Es sollte Mittel für eine finanzielle
Entgeltung von individuellen Autoren bereitstellen. Mit Modifikationen,
Entwicklungen und den nötigen Adaptierungen an Neue Technologien
war und ist das der primäre Zweck des Urheberrechts. Das Copyright
hat sich über nahezu 300 Jahre entwickelt, auf allen Kontinenten
durchgesetzt und hat heute den Status eines internationalen Menschenrechts.
Im allgemeinen sind die Interessen von Autoren und Verlegern
konvergent, obwohl manche Diskrepanzen in der Interpretation des Urheberrechts
auffallend sind. Für die Autoren ist es wichtig, daß es gesellschaftlich
garantiert ist, daß die Autorenrechte an die Integrität des
Werkes gebunden sind und nur per Vertrag mit freiwilliger schriftlicher
Zustimmung der Autoren für eine beschränkte Lizenzzeit übertragen
werden.
Ein weiterer wesentlicher Punkt für die Autoren
ist, daß faire Beziehungen sowohl zu den Konsumentenvertretungen
als auch zu unternehmerischen Organisationen bestehen, ohne daß
sie in Ausverkaufsverträge über Transferrechte getrieben werden.
Die Forderung, daß Autoren "alle Rechte, inklusive der sogenannten
normalen Rechte, im vollen Sinn des Copyrights für sämtliche
jetzt existierenden oder erst entstehenden Medien auf der ganzen Welt"4
abtreten sollten, scheint eine allzu rigide Klausel.
Die gegenwärtige Auseinandersetzung über das
Urheberrecht konzentriert sich vor allem auf das Thema Copyright für
digitale Werke und insbesondere auf den Vorschlag über eine Richtlinie
des Europäischen Parlaments und des Rates zur "Harmonisierung
gewisser Aspekte des Urheberrechtes und verwandter Schutzrechte in der
Informationsgesellschaft"5. Autoren und Verleger unterstützen Richtlinien,
die "harmonisierende Maßnahmen anstreben, um ein kohärentes
und günstiges Umfeld für Kreativität und Investitionen
im Rahmen des Binnenmarkes zu schaffen". Im Vorschlag der Europäischen
Kommission heißt es, daß bei urheberrechtlich geschützten
Werken ein exklusives Recht der Autorisierung oder des Vebotes in direkter
und indirekter Weise, für die zeitweilige oder permanente Reproduktion
in welcher Form auch immer, ob im Ganzen oder in Teilen des Originals
oder in Form von Kopien bestehe. Das Copyright sollte als ein sozialpolitischer
Baustein und nicht als Stolperstein der Informationsgesellschaft gesehen
werden.6
Zwei Interessensverbände haben sich beinahe zwei
Jahre lang bekriegt: Auf der einen Seite Künstlervereinigungen und
Institutionen der Kulturindustrie (Verlage, audiovisuelle Unternehmen,
Musikindustrie), die daran interessiert sind, die freie Nutzung geschützter
Inhalte so weit als möglich zu beschränken, und auf der anderen
Seite Telekommunikationsfirmen, Software-Produzenten und Konsumentenvertretungen,
darunter auch die Bibliotheken, die sich zusammenschlossen, um die Benützung
von urheberrechtlich geschütztem Material durch eine Erweiterung
der Ausnahmeregelungen maßgeblich zu erhöhen. Telekom-Gesellschaften
und Informations-Provider haben ein lebhaftes Interesse daran, Zusatzdienste
durch die Bereitstellung nützlicher und kostenfreier Inhalte anzubieten,
und die Bibliotheken sind daran interessiert, freien Zugang zu elektronischem
Material anbieten zu können. Am 10. Februar 1999 hat das Europäische
Parlament durch Annahme des Richtlinienentwurfs das Copyright in der Informationsgesellschaft
bekräftigt. Autoren und Produzenten erhalten vermutlich das ausschließliche
Recht für die Autorisierung der Verbreitung ihrer Werke im Kommunikationsnetzwerk
und werden höchstwahrscheinlich für private Kopien entschädigt.
Die nationalen Gesetzgebungen haben zu entscheiden, ob Bildungs- und Kultureinrichtungen
(wie Schulen, Bibliotheken etc.) eine Ausnahmeregelung erhalten.
Zwischen diesen beiden Lobbies - Autoren/Verleger und
Telekom-Firmen - entschied sich das Europäische Parlament zugunsten
der Künstler- und Produzentenvereinigungen, die bekannte Künstler
und Popsänger mobilisiert hatten. Vor der Entscheidung wurde eine
Petition von 400 bekannten europäischen Künstlern (darunter
Jean-Michel Jarre und Nana Mouskouri, die auch selbst Mitglied des Europäischen
Parlaments ist) unterzeichnet. 7
Eine der Konsequenzen des Richtlinienentwurfs wird ein
genereller Übergang von den traditionellen Copyright-Rahmenrichtlinien
zum Lizenzsystem sein. Das umfaßt Abgaben verschiedenster Art für
die Berechnung von Honoraren, verschiedene Identifizierungsmethoden für
die Verwaltung von Rechten, die vermutlich eine Art Wasserzeichen oder
den Einsatz digitaler Objektidentifikatoren beinhalten, die vor digitaler
Piraterie und Mißbrauch schützen.
Die Entwicklung von Lizenzen für wissenschaftliche
Texte ist vor allem im Bereich der STM (Scientific-Technical-Medical)-Publikationen
wichtig, wo es zu Konflikten mit den Bibliotheken kam. Es ist zu erwarten,
daß es für beide involvierten Akteure - für die Verleger,
die die Risiken der Produktion und Verbreitung elektronischer Publikationen
tragen, als auch für die Bibliotheken, deren Betriebskosten und Ausgaben
für Investitionen steigen - zu einer Erhöhung des Kostenaufwands
kommen wird. Es ist freilich nicht im Interesse der Verleger, daß
die Anzahl der Abonnements, insbesondere von wissenschaftlichen Zeitschriften,
sinkt. Die Lizenzgewährung könnte aber eine optimale Lösung
für Gruppen oder Konsortien von Bibliotheken darstellen.
[nach oben]
Elektronisches Publizieren: Distribution
Die Produktion eines Buches in konventioneller oder
in elektronischer Form kann mehr oder weniger komplex sein; eine kluge
Distribution ist aber immer der Schlüssel zum Erfolg. Es bleibt die
Frage, wie viele gute Bücher den Sprung in den Markt nicht schaffen.
Trotz enormer Fortschritte und automatisierter Distributionssysteme gibt
es nach wie vor Restriktionen und Engpässe bei der Content-Distribution,
der Verbreitung von Inhalten. Dies ist ganz verständich für
einen Markt wie den europäischen Buchhandel, in dem pro Jahr 366.000
neue Titel von 54.000 Verlegern veröffentlicht werden. 25.000 Buchhandlungen
und mehr als 100.000 weitere Geschäfte mit Buchhandel bieten über
sechs Millionen verschiedene Titel an!
Nicht alle Länder zeigen hinsichtlich der Distributionskanäle
ein homogenes Bild. So werden zum Beispiel in Deutschland etwa 60 Prozent
der Titel über die gewöhnlichen Buchhandlungen distribuiert;
in Großbritannien sinkt dieser Prozentsatz auf 40 Prozent, der Rest
wird durch Supermärkte etc. vertrieben.
Der Einsatz der Informationstechnologie in Buchhandlungen
hat sich sukzessive erhöht. Durch den Computer erfaßbare Erkennungssymbole
mit Strichcodierungssystemen - die bekannten ISBN-Nummern - sind in den
Buchhandlungen etwa seit zwanzig Jahren in Verwendung. Computerisierte
Lagerkontrolle und ausgeklügelte elektronische Suchsysteme sind weit
verbreitet. Die Technologie wird auch eingesetzt, um Eltern und Kindern
bei der Auswahl von Büchern mit interaktiven Buchauswahlprogrammen,
die auf Kinder abgestimmt sind, behilflich zu sein. Etwa zwanzig Prozent
aller Buchhandlungen führen Multimedia-Produkte, manche beginnen
nun auch, Online-Produkte zu vertreiben. Es wird erwartet, daß die
Läden in Zukunft einen Mix von Unterhaltung, Information und Wissen
anbieten werden.
Man kann unmöglich von der Anwendung der Informations-
und Kommunikationstechnologien sprechen, ohne Amazon.com, den virtuellen
Buchladen, zu erwähnen, der mehr als zwei Millionen Titel anbietet.
Amazon.com schaffte es, das Geschäftsjahr 1998 mit einem Bilanzverlust
von 124,5 Millionen Dollar abzuschließen, bei einer gleichzeitigen
Absatzsteigerung um 31,3 %, und trotzdem der Darling des Aktienmarktes
zu bleiben. Der gesamte Bestand der englischsprechenden Verlagswelt ist
auf einem Computerbildschirm verfügbar. Für Tausende Titel gibt
es Inhaltsverzeichnisse, Klappentexte und sogar Rezensionsauszüge.
Die Bücher können leicht bestellt und mit Kreditkarte bezahlt
werden. Darüber hinaus ist das elektronische Layout benutzerfreundlich,
und das Angebot läßt wenig Wünsche offen.
Neben dem virtuellen Buchladen ist auch Print-on-demand
eine weitere großartige Möglichkeit für Buchhändler.
Ein Zukunftsvision wäre, daß Kunden in Buchhandlungen an Computer-Terminals
virtuelle Titelkataloge durchblättern. Nach Auswahl und Bestellung
der gewünschten Bücher würden die gewählten Bücher
sofort in der Buchhandlung gedruckt. Das Szenario ist nicht so weit entfernt,
wie man meint. Ein Kunde kann heute virtuelle Bücher elektronisch
auswählen und bestellen und dann entweder in der Buchhandlung abholen
oder nach Hause geliefert bekommen. Die Buchhandlungen könnten als
Verrechnungszentren eine wichtige neue Rolle einnehmen. Print-on-demand
ist vor allem für abgelegene Verkaufsorte geeignet, die nur kleine
Lagerbestände haben. Ein Buchhändler kann dadurch ein breit
gestreutes Spektrum an Titeln anbieten, ohne durch enorme Investitionen
einer Buchhandlung mit großem Lager belastet zu sein.
Von der kommerziellen zur nicht-kommerziellen Distribution:
Die Bedeutung der Bibliotheken für den Aufbau einer demokratischen
Informationsgesellschaft kann nicht hoch genug eingeschätzt werden.
Die Rolle der Bibliotheken wird im Manifest der UNESCO für öffentliche
Bibliotheken als "lokales Gateway des Wissens" bezeichnet "das
für die individuelle und formelle Bildung auf allen Ebenen und die
Entwicklung von Computerkompetenz von zentraler Bedeutung ist"8.
Die Frage ist, ob dieser spezifische Zugang zum Wissen öffentlichen
Charakter haben wird. Neue private Informationsagenturen haben Schaltkreise
für die Informationsverbreitung eingerichtet, die auf Kommunikationsnetzwerken
basieren und eine Alternative zu Bibliotheks- und Informationsdiensten
darstellen. Diese Agenturen sind tatsächlich zu einer wirklichen
Konkurrenz für traditionelle Bibliotheksdienste geworden, daß
sich nun die Frage stellt, ob - nachdem so viel über "Bibliotheken
ohne Wände" gesprochen wurde - nun die Zeit der "Wände
ohne Bibliotheken" anbricht.
Kein Kulturland kann ohne Buchhandlungen und Bibliotheken
auskommen. Als Großeinkäufer von Büchern sind die Bibliotheken
für einen florierenden Buchhandel wichtig. Sowohl Autoren als auch
Verleger profitieren von den umfangreichen Ankäufen der Bibliotheken
und von den Tantiemen, die sie für die von den Bibliotheken bezahlten
Leihrechte erhalten. In Schweden werden zum Beispiel jährlich in
den Bibliotheken durchschnittlich zehn Bücher pro Besucher verliehen.
Diese hohe Entlehnungsrate bringt den Autoren und Autorenvertretungen
etwa 100 Millionen Kronen pro Jahr.
1997 veröffentlichte die Europäische Kommission
einen maßgeblichen Bericht über die Rolle der öffentlichen
Bibliotheken in der Informationsgesellschaft.9
Dieser Bericht entwickelte eine visionäre Strategie sowie Modelle
und Szenarien für die Gemeinschaft der öffentlichen Bibliotheken,
um sich den Herausforderungen der Informationsgesellschaften zu stellen.
Basierend auf der Annahme, daß die Informations- und Kommunikationstechnologien
sowohl in die industriellen Strategien wie auch in die Informationsdistribution
vollständig integriert werden müssen, betonte der Bericht das
Grundprinzip der Integration öffentlicher Bibliotheken in nationale
Pläne zur Entwicklung der Informationsgesellschaft. Diese Überlegungen
beruhen auf drei Faktoren. Der erste Faktor ist ein ökonomischer
und betrifft die strategische Bedeutung des Wissens für Bürger,
Firmen, Behörden und Institutionen. Der zweite Grund ist ein politischer
und basiert auf dem Zugang zur Information, der alle Bürger befähigen
sollte, ihre Verantwortung im Prozeß der aktuell stattfindenden
sozialen Veränderung wahrzunehmen. Der dritte Faktor ist ein sozialer
und hat zum Ziel, die Differenz zwischen den sogenannten "Informationsreichen"
und den "Informationsarmen" zu verringern.
Der Bericht enthält zudem auch eine Strategie für
die Adaptiertung der öffentlichen Bibliotheken, die drei Bereiche
umfaßt: a) die Ausweitung traditioneller Bibliotheksdienstleistungen
auf nicht gedruckte Materialien; b) die Übernahme einer neuen Rolle
als lokales Informationstechnologiezentrum: die Bibliotheken werden zu
einem Ort des Lernens und c) die Umwandlung der öffentlichen Bibliothek
in ein Produktions- und Informationszentrum für Publikationen. Parallel
dazu wurden die traditionellen und neuen Rollen von Bibliotheken als Kultur-,
Bildungs- und Lernzentren, allgemeine und spezielle Informationsdienste
und als "Refugium" für spezielle soziale Gruppen (Obdachlose,
arme Kinder etc.) neu interpretiert. In den abschließenden allgemeinen
Empfehlungen heißt es, daß a) nationale, politische Maßnahmen
für öffentliche Bibliotheken formuliert werden sollten und vice
versa die informationspolitischen Maßnahmen die Rolle der öffentlichen
Bibliotheken auf nationaler, regionaler oder lokaler Eben anerkennen sollten
und b) Qualifikationen und Kompetenzen für Informationsfachleute
entwickelt werden sollten, um die Zusammenarbeit der verschiedenen Typen
von Bibliotheken zu forcieren.
[nach oben]
Buchpolitik im digitalen Kontext
Wenn es um die Akteure der Buchkette geht, stellt sich
die Frage, welche Rolle die öffentliche Hand auf staatlicher oder
lokaler Ebene einnimmt. Meist unterstützt sie Bibliotheken, schafft
aber auch günstige Rahmenbedingungen für das Buch, die auf die
Bedürfnisse der Büchercommunity abgestimmt sind. Diese Politik
orientiert sich am und betont den demokratischen Wert des Buches als das
am leichtesten zugängliche kulturelle Medium. Das ist auch der Grund,
warum der Buchbereich in vielen Ländern nach wie vor von der öffentlichen
Hand direkt oder indirekt subventioniert wird. Die Kulturministerien,
Protektoren und Garanten der Rahmenbedingungen für den Buchbereich,
zeigen sich derzeit höchst besorgt über die durch unkluge gesetzliche
Maßnahmen anderer Ministerien gefährdete Basis eines florierenden
Buchhandels (niedrige Mehrwertsteuer, feste Buchpreise etc.).
Interessanterweise wird Büchern oder Neuen Technologien
im Buchbereich - im Grunde genommen dem gesamten Kulturbereich - in Plänen
über den Aufbau der Informationsgesellschaft, die von den Büros
des Premierministers, dem Finanz- und Wirtschaftsministerium, der Forschung
und von Telekommunikationsgesellschaften entwickelt werden, sehr wenig
Aufmerksamkeit geschenkt. Unter den auf den Websites dieser Ministerien
verfügbaren Plänen haben nur wenige Länder ambitioniertere
Pläne, die an einer potenten technologischen Buchinfrastruktur orientiert
sind. Frankreich hat einen ehrgeizigen Plan für die Digitalisierung
des kulturellen Erbes vorgestellt, in dem vorgesehen ist, kulturelle Inhalte
auch über das Internet zu verbreiten. Dies bezieht sich auf öffentliche
wie auch auf private Sektoren, Subventionen erhalten vor allem Forschungs-
und Entwicklungprojekte kultureller Technologien im Multimedia-Bereich,
außerdem wird Kreativität in Kunst, Wissenschaft und Technologie
gefördert. Der Plan enthält auch Maßnahmen zur Verbesserung
des Wissens über kulturelle Informationstechnologien und sieht eine
Erhöhung des technischen Equipments vor.10 Der
finnische Plan legt großen Wert auf Print-on-Demand und die Verfügbarkeit
von Informationen des öffentlichen Sektors in Netzwerken und Bibliotheken.
Ziel ist es, die kulturelle und linguistische Identität Finnlands
in einem globalisierten Umfeld zu erhalten.11
Die Digitalisierung des portugiesischen kulturellen Erbes und die Entwicklung
der digitalen Bibliotheken ist auch ein Thema des 1997 erschienenen Grünbuches
über die Informationsgesellschaft.12 In manchen Ländern wie etwa in Großbritannien
ist die "Informationsgesellschaft" ausschließlich kommerziell
orientiert. Das heißt jedoch nicht, daß Initiativen, die den
Informationsausbau zum Ziel haben, gesellschaftliche und kulturelle Aspekte
vernachlässigen. Erst kürzlich scheute die Regierung Großbritanniens
keine Mühen, um die nationale Informationsinfrastruktur fertigzustellen
und erteilte dem Stadtmodernisierungsfonds einen beträchtlichen Zuschuß,
um ein Netzwerk von bis zu 1.000 IT-Lernzentren zu gründen, die Zugang
zu Einrichtungen für die Weiterbildung in Informationstechnologien
ermöglichen.13
Schlussfolgerungen
Im Jahr 1995 öffnete die Frankfurter Buchmesse
ihre Hallen für elektronische Verleger und teilte ihnen die Halle
4, einen der größten Pavillons der Messe, zu, der bis dahin
den internationalen Verlegern überlassen war, die nun an den äußersten
Rand des Areals der Buchmesse gedrängt wurden. Ein "Halle 4"-Syndrom
entstand, bei dem man sich des Gefühls nicht erwehren konnte, daß
eine Ära zu Ende ging (die Gutenberg-Galaxie), und ein anderes Zeitalter
am Verlagshorizont auftauchte (oder besser bedrohlich heraufzog). "Ceci
tuera cela", schrieb Victor Hugo, womit er andeutete, daß die
Druckerpresse der Mörder und die Kathedrale von Notre Dame das Opfer
sei.
Ist das elektronische Publizieren dabei, das konventionelle
Verlegen zu diskreditieren? Niemand würde heute eine solche Behauptung
unterschreiben. In der Linzer Arbeitsgruppe wurde viel vom Ende der Buchgesellschaft
gesprochen. Niemand glaubte jedoch wirklich, daß dies eintreten
würde. Umberto Eco, der berühmte italienische Schriftsteller,
meinte, daß Bücher,wie Scheren, Messer oder Fahrräder,
eine höchst vollendete Technologie darstellten. Sie können mehr
oder weniger schön, mehr oder weniger praktisch sein, sie erfüllen
jedenfalls die Aufgabe, für die sie geschaffen wurden. Ein anderer
Referent der Arbeitsgruppe meinte, daß einem im Flugzeug, sobald
man das Handy ausgeschaltet, den Laptop zugeklappt und die elektronische
Agenda beiseitegelegt hätte, nur eines bliebe ...das Buch.
Ist das Buch tot? Wenn ja, lang lebe das Buch!
[nach oben]
1 European
Communities. European Commission, Opportunities for publishers in the
information market, Luxemburg 1993.
2 European Union. European Commission,
DG XIII - Telecommunication, Information Market and Exploitation of Research.
Information industry and market and language processing, Electronic Publishing
in Europe: Competitiveness, Employment and Skills. Flash Presentation
of the Electronic Publishing Sector, by Laurence Balla and Gilles Fontaine,
IDATE (Institut de L'audiovisuel et des télécommunications
en Europe), Luxemburg 1997.
3 Council of Europe, Freedom
to publish (on demand) our cultural diversity, Straßburg 1999.
4 Zitiert nach Maureen Duffy,
Referentin auf der Linzer Konferenz in der Debatte "Copyright regimes/New
Technologies - New Policy" (persönliche Mitschrift).
5 KOM(97)628 endg., Brüssel,
10. 12. 1997.
6 Vgl. Charles Oppenheim: The
Legal and Regulatory Environment for Electronic Information; Infonortics,
3rd ed., Tetbury 1998.
7 "Les droits d'auteurs
renforcés", in: Le Monde, 15 Februar 1999.
8 UNESCO, Manifesto for public
libraries, Paris 1994.
9 European Union. European Commission.
DG XIII - Telecommunication, Information Market and Exploitation of Research,
Public libraries and the information society, by J. Thorhauge, G. Larsen,
H. P. Thun and H. Albrechtsen, ed. by M. Segbert, Luxembourg 1997.
10 http://www.internet.gouv.fr/francais/textesref/cisi190199/accueil.htm
[zitiert 29. 1. 1999]
11 http://www.tieke.fi/tieke/tikas/indexeng.htm
[zitiert 29. 1. 1999]
12 http://www.missao-si.mct.pt/english/greenpaper/green.htm
[zitiert 2. 2. 1999]
13 http://www.lic.gov.uk/publications/pressreleases/nofboost.html
[zitiert 29. 1. 1999]
Giuseppe Vitiello ist im Europarat für das
Projekt Electronic Publishing, Bücher und Archive zuständig.
Davor war er Lektor für Italienisch und Linguistik an den Universitäten
Toulouse und Orléans und war Assistent des Direktors der Nationalbibliothek
von Florenz. Von 1989 bis 1991 nationaler Sachverständiger bei der
Europäischen Kommission. Er ist Autor zahlreicher Publikationen und
Berichte über Kultur- und Übersetzungsgeschichte sowie Bibliotheks-
und Informationswesen.
[nach oben]
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